26
Dez

Die Kunst wegzuschauen

Stell dir vor, man würde dich fragen, wie man uns, die menschliche Spezies, in einfachen Worten am besten beschreiben könnte – was würdest du antworten? Selbstwahrnehmung? komplexe Intelligenz und Kommunikation? Kultur oder gar Anteilnahme und Glaube? Stimmt, all das sind tatsächlich Eigenschaften, die den Menschen ganz gut beschreiben und von anderen Lebewesen differenzieren. Dennoch kommen mir auch andere Charakterzüge in den Sinn und die klingen weitaus weniger sympathisch. Habgier, Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit zum Beispiel.

Es gibt mittlerweile über 7 Milliarden Menschen auf dieser Erde, wobei fast die Hälfte der Weltbevölkerung mit weniger als $2.50 pro Tag auskommen muss. Und zusammen mit jenen, die weniger Glück hatten, stöhnt der Planet zunehmend unter der Last und Ausbeutung der Menschen, die zu viel haben.

Kümmert uns das?

Ich könnte nun mehr über hungernde Kinder in Afrika erzählen oder über Flüchtlinge, die während ihrer verzweifelten Suche nach einer besseren Welt in Booten auf dem Mittelmeer sterben. Ich könnte auch von einstigen Tropen-Paradiesen berichten, die nun fast nur noch aus toten Flächen von Monokulturen bestehen, gezeichnet von Ausrottung, Feuer und schlechten Arbeitsbedingungen. Oder über die Verbrechen großer Unternehmen, wie im skandalösen Fall des Ölriesen Chevron, der nicht nur die Umwelt, sondern auch das Leben der Menschen in Ecuador zerstörte. Eine Umweltkatastrophe, so gravierend, dass sie auch „Rainforest Chernobyl“ genannt wurde. Dennoch leugnet Chevron weiterhin jegliche Verantwortung, denn jene, die Geld besitzen sind unantastbar.

Ich könnte all diese Geschichten erzählen, aber wer würde sie lesen? Ich würde ja sowieso nichts Neues berichten, denn all das kennen wir bereits. Wir sind uns der Gewalt, Ungerechtigkeit und Manipulation, die jeden einzelnen Tag auf dieser Welt stattfindet, durchaus bewusst. Wir wissen ganz genau, dass während wir unser Feierabendbier und eine warme Mahlzeit in einem gemütlichen Wohnzimmer genießen, da draußen andere wie Fliegen sterben und dass es unser Reichtum ist, der Natur und Frieden zerstört.

Hast du dich jemals gefragt, wie es sein kann, dass wir trotz unseres Bewusstseins, uns nicht kümmern, nichts ändern, keine Schwierigkeiten haben unser Leben zu genießen und stattdessen jegliche Verantwortung und Bedenken erfolgreich von uns stoßen?

Ist es weil wir überzeugt sind, dass wir sowieso nichts ändern können? Oder liegt die Begründung darin, dass wir der Meinung sind, das alles sei ja nicht unsere Sache, sondern die Aufgabe der Politiker? Glauben wir wirklich, dass Heraushaltung die korrekte Haltung ist?

Ich bezweifle stark, dass dies unsere wahren Beweggründe sind.

Der Mensch wurde nicht dazu gemacht Dinge zu ignorieren, sich zu verstecken und einfach mal abzuwarten. Wir entwickeln uns seit 200.000 Jahren. Es war ein langer Weg der Evolution der uns zu dem gemacht hat, was wir jetzt sind und wir wären gar nicht mehr hier, wenn unsere Vorfahren den Kopf in den Sand gesteckt hätten mit dem Gedanken „Da soll sich mal jemand anderes drum kümmern“. Wir waren einmal Läufer, Macher, Überlebenskünstler.

Nun sind wir zwar immer noch lebendig, aber wir haben uns an zu viel Luxus gewöhnt. Wir müssen uns kaum noch anstrengen, das Haus verlassen und Risiken eingehen. Sicher, wir sind immer noch Eroberer und erpicht darauf wissenschaftliche Antworten zu finden und neue Technologien zu entwickeln. Zusätzlich sind wir aber auch süchtig nach Gemütlichkeit, Erfolg und Geld und basierend darauf wurden wir zunehmend feiger, weil wir plötzlich Angst haben mussten, all unsere Besitztümer zu verlieren. Als Konsequenz prallt alles, was sich vor unserer Seifenblase abspielt gnadenlos an uns ab.

Ich glaube der wahre Grund, dass wir nichts ändern ist nicht, dass wir uns machtlos oder unschuldig fühlen. Ich vermute viel mehr, es liegt daran, dass wir in effizientester Weise gelernt haben wegzuschauen.

Wir sagen Floskeln wie „Ich habe meine eigenen Probleme“ oder „Ich muss mich erstmal um mein eigenes Leben kümmern“, obwohl wir wissen, dass es sich dabei um schwache Rechtfertigungen handelt und wir eigentlich keinen vernünftigen Grund haben, uns zu beschweren. Allerdings macht es das Leben sehr viel einfacher, wenn wir versuchen uns selbst und andere davon zu überzeugen, dass wir nicht verantwortlich sind. Und da wir das schon seit Jahrzehnten so machen, sind wir mittlerweile richtig gut darin Dinge schön zu reden und zu verleugnen, denn oft schenken wir sogar unseren eigenen Worten Glauben.

Aber woher kommt dieses Verhalten, welches uns erlaubt unsere Augen zu verschließen? Ist es ganz einfach eine Sache von Bequemlichkeit und Kaltschnäuzigkeit, weil wir unsere Annehmlichkeiten nicht mehr hergeben wollen? Oder ist es eher eine psychische Verdrängung, eine Art post-traumatische Gedächtnisstörung, die uns erlaubt unschöne Ereignisse wegzuschließen?

Das sind keine wissenschaftliche Hypothesen. Ich habe keine Ahnung, ob an diesem Aspekt des menschlichen Verhaltens überhaupt geforscht wird. Es ist lediglich mein persönlicher Versuch die Situation zu verstehen. Ich weiß nicht ob der Grund, dass wir erfolgreich die Realität ignorieren können auf purer bewusster Ignoranz oder einem automatischen Selbstschutzmechanismus basiert. Es scheint mir aber sehr wahrscheinlich, dass es eine Kombination aus beidem ist.

Am Ende macht es keinen Unterschied, ob unsere Ignoranz nun eine bewusste oder unbewusste Fähigkeit darstellt. Wichtig ist nur, dass wir endlich aus diesem Koma erwachen und unsere Augen wieder öffnen. Denn am Ende liegt es ganz allein an uns für Gerechtigkeit einzutreten, weil es niemanden dort draußen gibt, der das für uns tun wird. Genauso wenig werden sich unsere Probleme einfach plötzlich  von allein in Luft auflösen.

Foto: Andy Happel

2 Responses

  1. Jette

    Danke für diesen wunderbaren, emotionalen Text. =)
    Ergänzend würde ich auch die Möglichkeit „Selbstschutz“ in Betracht ziehen, denn würden wir ungefiltert die Gemeinheiten und Grausamkeiten des menschlichen Handelns in uns strömen lassen, müssten wir verzweifeln. Dann wären wir schlimmstenfalls unglücklich UND gelähmt.
    Mit eurem Workshop „optimistisch bleiben“ geht ihr das ja auch schon an. 😉

    1. Kathi

      Bittersehr 🙂 Da war ich auch wirklich sehr emotional, als ich den Text verfasst habe. Ich gebe dir vollkommen Recht: Selbstschutz ist ein wichtiger Punkt. Wie du schon sagst, wenn wir diesen nicht alle bis zu einem gewissen Grad auch bei uns selbst anwenden würden, dann wären wir vermutlich gelähmt. Deswegen ist es natürlich auch sehr wichtig, sich manchmal einfach nur den vielen schönen Dingen im Leben zu widmen – und eben ganz bewusst Wegzuschauen. Um neue Kraft zu schöpfen & optimistisch bleiben zu können 🙂

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